DEUTSCH
Tief beeindrückt vom deutschen Militarismus, das während
des ersten Weltkrieges regierende türkische Triumvirat von Talaat Pascha, Enver
Pascha und Djemal Pascha hat die Kriegsführung osmanisches Heeres fast völlig
deutscher Offiziere übergegeben. Als Chef des osmanischen Generalstaabes stand
Bronsart von Schellendorf unmittelbar unter Kriegsminister Enver Pasha.
Nach dem Rachenmord Taalat Pashas von einem Armenier namens
Soğomon Tehliriyan in Berlin in 1921 gab es einen Prozeß, was eher zur Beurteilung
der Türken für die Vetreibung der Armenier kam. Tehlirian selber war
freigesprochen, obwohl der Mordtat bestätigt wurde. Vom Auskommmen des
Prozesses unzufrieden hat Von Schellendorf sich verpflichtet gefühlt, seine
eigene Meinung über die Ereignisse offenbaren und der Öffentlichkeit
mitzuteilen. Erschienen am 24. 7. 1921, im Bleibatt der Morgen Ausgabe der
Deutschen Allgemeinen Zeitung, Nr. 342.
Ein
Zeugnis für Talaat Pasha
von
Generalleutnant a.D. Bronsart von Schellendorf
ehemaligen
CHEF DES GENERALSTAABES DES TÜRKİSCHEN FELDHEERES,
zuletzt
Kommandeur des Königlich preuß. Inf.-Div
Im Prozeß Teilirian werden Zeugen vernommen, die entweder
nichts zur Sache aussagen konnten, oder die die zu bezeugenden Geschichte nur
“gehört” haben; Augenzeugen, die die Wahrheit gesehen haben, sind nicht
vorgeladen worden. Warum hat man die deutsche Offiziere, die zur seit der
Armeniergreuel auf dem Schauplatz dieser im Prozeß so entscheidende Rolle
spielenden Begebenheiten dienstlich tätig waren, nicht vernommen?
Sie waren dem Gericht namhaft gemacht, hatten teilweise
schon von Gericht die Aufforderung bekommen, sich als Zeugen bereit zu halten,
und sind dann schließlich nicht berufen worden. Ich hole darum auf diesem Wege
noch nachträglich die ohne meine Schuld versäumte Zeugenpflicht nach, um der
Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen.
Das dies so spät geschieht, liegt daran, daß ich mir das
Material erst nach und nach beschaffen konnte.
Um die dem ermordeten Groswesir zur Last gelegten
Armeniergreuel zu verstehen, ist es nötig, einen kurzen Rückblick zu tun.
Armeniengreuel sind uralt! Sie geschehen immer wieder, seit
Armenier und Kurden im grenzgebiet Rußlands, Persiens und der Türkei
beieinander wohnen.
Der Kurde ist Nomade und Viehbesitzer, der Armenier
Ackerbauer, Handwerker oder Händler. Der Kurde hat keine Schulbildung, kennt
Geld und Geldeswert nicht genau und weiß, daß Zinsennehmen durch den Koran
verboten ist. Der Armenier nutzt als Händler die Unerfahrenheit der Kurden
skrupellos aus und übervorteilt ihn. Der Kurde fühlt sich betrogen, rächt sich
an dem Wucherer und- “Armeniergreuel” ist fertig! Es muß ausdrücklich betont
werden, daß Gegensätze in der Religion dabei niemals mitspielten.
Der uralte Zwist bekam neue Nahrung, als die Armenier während des großen Krieges einen
gefährlichen Aufstand in den östlichen Grenzprovinzen der Türkei unternahmen;
ein besonderer Grund dazu lag nicht vor, denn die von den “Mächten” der Türkei
auferlegten Reformen begannen gerade zu wirken. Die Armenier hatten Sitz und
Stimme in dem neuen Parlament, stellten sogar seitweise den Minister des Auswärtigen.
Sie hatten die gleichen sozialen und politischen Rechte wie die übrigen Völker
des Staates. Die Ruhe in ihrem Lande wurde durch die von dem französischen
General Baumann ausgebildete Gendarmerie aufrecht erhalten.
Der Aufstand war von langer Hand vorbereitet, wie die
zahlreichen Funde an gedruckten Aufrufen, aufhetzenden Broschüren, Waffen,
Munition, Sprengstoffen usw. in allen von Armeniern bewohnten Gegenden
beweisen; er war sicher von Rußland angestiftet, unterstützt und bezahlt. Eine
armenische Verschwörung in Konstantinopel, die sich gegen hohe Staatsbeamte und
Offiziere richtete, wurde rechtzeitig entdeckt.
Da sich alle waffenfähigen Mohammedaner beim türkischen
Heere befanden, war es dem Armeniern leicht, unter der wehrlosen Bevölkerung
eine entsetsliche Metzelei anzurichten, denn sie beschränkten sich nicht etwa
darauf, rein militärisch gegen die Flanken und gegen den Rücken der in der
Front durch die Russen gebundenen türkischen Ostarmee zu wirken, sondern sie
rotteten die muselmanische Bevölkerung in jenen Gegenden einfach aus. Sie
begingen dabei Grausamkeiten, von denen ich als Augenzeuge wahrheitsgemäß
bezeuge, daß sie schlimmer waren, als die den Türken spätervorgeworfenen
Armeniergreuel.
Zunächst griff die Ostarmee ein, um ihre Verbindungen mit
dem Hinterlande aufrecht zu erhalten; da sie aber alle Kräfte in der Front
gegen die russische Überlegenheit brauchte, auch der Aufstand immer weiter,
sogar in entfernteren Regionen des türkischen Reiches, um sich griff, wurde die
Gendarmerie zur Dämpfung des Aufstandes herangezogen. Sie unterstand, wie in
jedem geordneten Staate, dem Ministerium des Inneren. Der Minister des Inneren
war Talaat, und er mußte als solcher die nötigen Anweisungen geben. Eile tat
Not, denn die Armee war in ihren sehr empfindlichen rückwärtigen Verbindungen
schwer bedroht, und die muselmanische Bevölkerung flüchtete zu Tausenden in
Verzweiflung vor den Grueltaten der Armenier. In dieser kritischen Lage faßte
das Gesamtministerium den schweren Entschluß, die Armenier für staatsgefährlich
zu erklären und sie zunächst aus den Grenzgebieten zu entfernen. Sie sollten in
eine vom Krieg unberührte, dünn besiedelte aber fruchtbare Gegend überführt
werden, nach Nord-Mesopotamien. Der Minister des Inneren und die ihm
unterstehende, von dem französischen General Baumann für ihren Beruf besonders
ausgebildete Gendarmerie hatten lediglich diesen Entschluß auszuführen.
Talaat war kein unzurechnungsfähiger, rachsüchtiger Mörder,
sondern ein weitblickender Staatsmann. Er sah in den Armeniern die zwar jetzt
von den Russen und den russisch-armenischen Glaubensgenossen aufgehetzten, aber
in ruhiger Zeiten doch sehr nützlichen Mitbürger, und hoffte, daß es ihnen,
entfernt von russischen Einflüssen und kurdischen Streitereien, in den neuen
fruchtbaren Wohnsitzen gelingen wurde, diese zukuftsreiche Gegend durch ihren
Fleiß und ihre Intelligenz zu höher Blüte zu bringen.
Talaat sah ferner voraus, daß die Ententepresse die
Ausweisung der Armenier dazu benutzen würde, eine scheinheilige Propaganda
gegen die “Christenverfolgungen” der Türken in Szene zu setzen und hätte schon
deshalb gern jede Härte vermieden. Er hat Recht behalten! Die Propaganda setzte
ein und hatte tatsächlich den Erfolg, daß überall im Auslande diese
unglaubliche Dummheit geglaubt wurde. Christenverfolgung! Man bedenke; just in
einem Lande, daß mit christlichen Großmächten eng verbündet, eine große Zahl
christlicher Offiziere und Soldaten in seinem Heere als Mitkämpfer hätte.
Ich komme nun zum Ausführung des Planes der armenischen
Umsiedlung. In einem Lande von der Ausdehnung des türkischen Reiches, das aber
so mangelhafte Verbindungen hat, befinden sich die Provinzen in einer mehr oder
weniger großen Unabhängigkeit von der Zentralstelle. Die Gouverneure (Walis)
haben mehr Gerechtsame als z.b. unsere Oberpräsidenten. Hierauf fußend, nehmen
sie für sich in Anspruch, die Verhältnisse an Ort und Stelle oft richtiger
beurteilen zu können als dies in Konstantinopel möglich war. Befehle des
Ministeriums wurden daher gelegentlich anders ausgeführt wie beabsichtigt. So
ging es auf der Beamtenstufenleiter nach unten weiter, wo in vielen Fällen die
Einsicht fehlte.
Die ungewöhnlich schwierige Aufgabe, außer vielen tausenden
von muselmanischen Flüchtlingen auch ebenso viele Armenier auf die richtigen
Marschstraßen zu leiten, sie zu ernähren und unterzubringen, überstieg die
Kräfte der wenigen vorhandenen und noch dazu ungeschulten Beamten. Hier griff
Talaat mit größter Tatkraft und allen Mitteln ein. Die von ihm erlassenen
zweckmäßigen Anweisungen an die Walis und an die Gendarmerie müssen noch
vorhanden sein. Zahlreiche Schreiben des Ministeriums des Inneren an das
Kriegsministerium, die mir durch meine Dienststellung bekannt wurden,
verlangten dringend Hilfe von der Armee; sie wurde gewährt, soweit die
Kriegslage es zuließ: Nahrungs- und Beförderungsmittel, Unterkunftsräume,
Ärtzte und Arzneimittel wurden zur Verfügung gestellt, obwohl die Armee selbst
empfindlichen Mangel litt. Leider ist trotz aller Mühe, ihr Los zu erleichtern,
tausende von muselmanischen Flüchtlingen und armenischen Ausgesiedelten den
Anstrengungen der Marsche erlegen.
Hier liegt die Frage nahe, ob man solche Zustände nicht
hätte voraussehen und die Umsiedlung unterlassen können. Abgesehen davon, daß
die türkischen Flüchtlinge in ihrer berechtigten Angst vor den armenischen
Schandtaten sich einfach nicht hätten aufhalten lassen, muß auch die
Staatsnotwendigkeit der armenischen Abwanderung aus der Aufruhrgebieten bejaht
werden. Die Folgen mußte man auf sich nehmen.
Nehmen wir einmal unsere jetzigen Zustände in Deutschland.
Wenn ein Ministerium sich fände und die Macht hätte, anzuordnen: “Alle
polnischen Aufrührer werden aus Oberschlesien entfernet und in gefangenenlager
gebracht!” oder: “Alle gewalttätigen Kommunisten eingeschifft und an den Küsten
Sowjet-Rußlands ausgebooted!”, wurde nicht ein Beifallssturm durch ganz
Deutschland brausen?--
Vielleicht legen sich die Richter im Teilirian-Prozess solche
Fragen nachträglich vor.--- Sie werden dann zu der harten Maßnahme der
armenier-Aussiedlung einen neuen Standpunkt gewinnen! Talaat hat sich der
militärischen Forderung, an der Mittelmeerküste alle Griechen ausweisen zu
lassen, widersetzt, weil dort wurde “nur Spionage” getrieben. Ein gefährlicher
Aufruhr, wie in Armenien, erfolgte nicht, obwohl der Gedanke dazu nahe lag.
Talaat war ein Staatsman, aber kein Mörder!
Nun aber die Greuel, die absichtlich an den Armeniern
begangen worden sind. Sie sind so vielfach bezeugt, daß an der Tatsache nichts
zu zweifeln ist.
Ich beginne mit den Kurden. Selbstverständlich benutzte
dieser Volksstamm die seltene, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit, die
verhaßten Armenier, die noch dazu solche Scheußlichkeiten gegen Mohammedaner
begangen hatten, bei ihrem Durchmarsch auszuplündern und gegebenenfalls
totzuschlagen. Der Leidenszug der Armenier führte viele Tage und Wochen lang
durch Kurdistan! Es gab keinen anderen Weg nach Mesopotamien.
Über das Verhalten der den armenischen Scharen truppenweise
beigegebenen türkischen Gendarmen lauten die Urteile verschieden. An manchen
Stellen haben sie ihre Schützlinge gegen kurdische Banden tapfer verteidigt, an
anderen Orten sollen sie geflohen sein. Es wird ihnen auch vorgeworfen, mit der
Kurden gemeine Sache gemacht, oder auch allein die Armenier ausgeraubt und
getötet zu haben; der Beweis, daß sie
hierbei auf höheren Befehl gehandelt hätten, ist nicht erbracht worden. Talaat
kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden; die Ereignisse spielten sich
2000 km von ihm entfernt ab, und die Gendarmerie hatte, wie bereits erwähnt,
bis zum Ausbruch des Krieges eine ledglich französische Ausbildung erhalten.
Es kann auch nicht geleugnet werden, daß türkische
Offiziere sich an Armeniern bereichert und vergriffen haben, wo aber eine
derartige Handlungsweise zur Kenntnis der Vogesetzten kam, wurde sofort scharf
eingegriffen. So ließ Wehib Pascha, Oberbefehlshaber der türkischen Ostarmee,
zwei Offiziere aus solchem Grunde kriegsgerichtlich erschiessen; Enver Pascha bestrafte den Gouverneur von
Aleppo, einen türkischen General, der sich auf kosten der Armenier bereichert
hatte, mit sofortiger Dienstentlassung und langer Freiheitsstrafe. Ich denke,
diese Beispiele genügen, um zu beweisen, daß man die Armeniengreuel nicht
wollte! Aber es war Krieg, und die Sitten waren verwildert. Ich errinere an die
Grausamkeiten, die die Franzosen an unseren Verwundeten und Gefangenen verübt
haben. Hat das Ausland endlich diese Schandtaten erfahren?
Außer dem ermordeten Groswesir ist, wie ich gehört habe, ist
auch Enver Pascha von dem deutschen Gericht angegriffen worden. Enver liebt
sein Vaterland glühend; er ist ein ehrenhafter Soldat von großer Begabung und
beispielloser Tapferkeit, deren Augenzeuge ich wiederholt war. Seiner
Tatkraft allein ist die Neuschaffung des
türkischen Feldheeres zu danken, das, von seinem Geist erfüllt, jahrelang gegen
eine erdrückende Übermacht kämpfte und heute noch für die Heimat kämpft. Kein
deutscher Offizier ist berufener, über ihn und seinen Freund Talaat Pascha zu urteilen,
wie ich, da ich von 1914 bis Ende 1917
als Chef des Generalstabes des türkischen Feldheeres in den engsten Beziehungen zu diesen beiden Männern
stand.
Talaat Pascha ist ein Opfer seiner Vaterlandliebe geworden.
Möge es Enver Pascha gelingen, wenn seine Zeit gekommen ist, sein Vaterland zu
neuer Größe zu erheben. Daß diese beiden Männer mir in schwerer Zeit ihr volles
Vertrauen, ich darf sagen, ihre Freundschaft geschenkt haben, ist eine stolze
Errinerung für mich.
Überliefert von Cengiz Özakıncı in seinem Buch Türkiye’nin Siyasi İntiharı ve Yeni Osmanlı
Tuzağı (“Der Politische Selbstmord der Türkei und die Neo-Osmanische
Falle”), Otopsi Yayınları, Istanbul 2005. ISBN-975-8410-71-7 pp. 602-607. Herr
Özakıncı hat gewissenhaft den deutschen Originaltext mitgegeben. Einige
offenbare Schreibfehler habe ich korrigiert.
Schliesslich ist es einem anderen Offizier gelungen, die
Türkei “zu neuer Grösse zu erheben”, dem Mustafa Kemal Pascha, später Atatürk,
sieger des türkischen Befreiungkrieges und schöpfer der türkischen Republik.
Enver hat sein Heldentod anderswo gefunden, in fernem Beldjivan, heutigem
Tadjikistan, im Kampf gegen die Bolschewiten. Es war am 4. August 1922, weniger
als ein Monat vor dem endgültigen Sieg Mustafa Kemal Paschas im Türkischen
Unabhängigketskrieg (30. August).